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Mobilitätswende - Ab sofort Sunday Rider?

Aktualisiert: 26. Aug. 2022

Singlespeed, das neue Bonanzarad der Mobilitätswende oder doch nur die Ablösung des Hängeschranks in neumodernen Altzimmerbauten als Interieur?

Probiere es mal aus, haben sie gesagt. Nun stehe ich hier, Rad so teuer wie ein guter solider Passat. Knüppelharter Sattel, keine Schaltung, schwerer Rahmen, französische Ventile, aber das neumoderne Design zählt. Hat man gesagt. Ich so gehört.


Weil Montage sowieso scheiße sind, denke ich, heute, besonders heute, ist der perfekte Tag, um mit diesem Erzeugnis der Mobilitätswende in die Innenstadt zu rasen. Ich hab Puls, meine AirPods & die Sonnenbrille dabei. Lets go.

Panzerfahrwürdige Radwege der glamourösen Innenstadt zwingen mich schon nach 2 Minuten meiner todesmutigen Reise auf dem Boulevard aus Taubenscheiße und McDonalds Abfällen zu fahren. Ob dieser besser ist, bezweifle ich jetzt schon.

Say what, hier überholt mich keiner, ausgenommen die testosterongestörten Männer auf ihren trashigen E-Rollern. Die elektrischen Krücken der Neuzeit, exponentiell geförderte Fettleibigkeit, gesetzlos irren sie wie nervige Wespen im Sommer umher und nehmen dir alles, was dir lieb ist.

Hätte ich einen Rückspiegel, würde ich jetzt Folgendes sehen: Über beide Lippen leckend fahren sie mir bis aufs – immerhin – ein zentimeterdicke Hinterrad, um meinem angstschweißdurchnässten Körper a la carte beim Sport machen zuzuschauen. Wobei sich mein Angstschweiß mittlerweile aus folgenden Dingen zusammensetzt: kurzen Herzaussetzern beim Geschrei von Vorbeifahrenden aller Art, toten Fliegen, Pollen & Abgasen.

Ich quäle mich also weitere paradoxe 40 Kilometer durch die gestresste Meute von fluchenden Autofahrern, nervigen Malle-Handtuchwerfer-Alman-Radlern auf Trekkingbikes, rotläufigen Gangsterrappern in 420 Ganzkörperkondomen, krähenden Schulklassen & superdupercoolen Bikefahrern, die sich an jeder Ampel nach vorne drängeln. Ah, immer wieder schön hier. Sport machen ist so entspannend. Frische Luft. Liebs.

Spektakuläre pressepflichtige Szenen an der Ampel: schweigende Beziehungspartner, die lieber mit ihrer verhassten Schwiegermutter reden würden als auf der Autofahrt mit ihrem Partner, bumsende Honda Civic Dudes, die sich mit der verbratenen Riester-Rente ihrer Eltern irgendein gottloses Fahrzeug - zusammengehalten von lauten blechernen Bässen und mehr Mitfahrern als vorhandenen Sitzen - zusammengekratzt haben. Der Midlife Crisis geplagte Typ neben mir, bei dem ich mich frage, ob er versucht mich anzumachen oder ob er gerade seinen dritten epileptischen Anfall erleidet. Sollte ich Hilfe holen?

Die Neopren-Ritzen-engen Klamotten sind Teil meiner eigenen Haut geworden, ich habe noch mehr Puls als Angst, der sowieso schon knüppelharte Sattel, der - wieso zur Hölle Satans- auch noch Nieten hat, quält sich in die letzte Pore meines Hinterns und ich frage mich seit 20 Minuten, ob ich überhaupt noch auf dem korrekten Weg bin. Wobei "korrekt“ hier gar nicht mehr in Frage zu stellen ist. Ich möchte einfach nur noch in Watte gepackt werden und nach Hause. Meine prasselnde Lunge ist mittlerweile lauter als die unfassbar schleichende, stinkende Müllabfuhr vor mir. Meine Gefühle schwanken zwischen Selbstzweifel, die bei jeder Steigerung von 5% Höhenunterschied schlimmer werden, Ehrfurcht und unfassbarer Angst. Durch ständiges An-und Abfahren werde ich mein Fitnesslevel von nun an auf irgendwas zwischen Asthma-Patient und einem 60-jährigen Kettenraucher herabsetzen.

Als meine Gedanken kurz über absurde Horoskope und deren Nebenwirkungen abschweifen, überfahre ich vielleicht maximal 2-3 kirschgrüne Ampeln. Der Wechsel zwischen erodiertem Radweg und risikoreichem Boulevard macht langsam Spaß, außer der harte Aufprall auf die nicht abgesenkte Bordsteinkante mit 27km/h.

Angekommen am Ziel, klopfe ich mir stolz auf meine durchnässte Schulter, diesmal nicht gestorben zu sein. Heute nicht. Vielleicht morgen, wir werden es sehen. Freunde der Nachhaltigkeit. Man sieht sich immer zweimal, zumindest die Taubenscheiße, mein Rad und ich

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