Deutschland hat ein Problem mit Fettleibigkeit. Und zwar auf der Straße. Wo sich in den 70ern und 80ern der durchschnittliche Kleinwagen mit anderthalb Meter Breite diskret durch den Großstadtverkehr schlängelte, wirken hier aktuelle Neuwagen so orientierungslos wie Boris Palmer auf einem Knigge-Seminar. Motorisch im Grenzbereich legt ein stetig wachsender Anteil von ausladenden Abmessungen und eingeschränkter Rundumsicht überforderter Teilzeitnutzer mit präziser Regelmäßigkeit den sowieso schon mehr zäh als fließenden Innenstadtverkehr vollständig lahm. Im Besten Fall. Im schlechtesten sterben Menschen. Gut, möchte man argumentieren, das mag ja für die Innenstädte zutreffen, aber auf Langstrecke überwiegen Komfort und satte Straßenlage allemal. Mit Blick auf die üppige Zahl der Gesamtkilometer deutscher Autobahnbaustellen stimmt auch das nur zum Teil. Denn aus Gründen der Überbreite dürfen mehr als 70% der Neuwagen hier schon seit Jahren nicht mehr auf die linke Spur und müssen sich in träger Demut auf der rechten Bahn hinter Sattelzug und Lastenschlepper einreihen um in erhöhter Schrittgeschwindigkeit behäbig wie Hefeteig an die Ostsee oder in den Harz zu...– ja was denn eigentlich – gären, reifen, langsam austreiben? Viele wagen sich dennoch auf die Überholspur. Und so stecken kurz darauf beliebige Kompakt SUV und Mittelklasse Crossover reaktionsschwacher Fuhrmänner und zermürbter Kutscherinnen quer unter den Leitplanken oder in den Baugruben entlang der A3. In “sportlich-hippen“ Klassifizierungen hat die aufgebockte, materialisierte Ineffizienz des Fahrzeugbaus – zugeschneidert auf die ihrerseits auseinandergehende und alternde Demografie – einfache Klein-, Mittel- und Oberklassewagen von einst längst abgelöst und täuscht mit geschliffenem Marketing dezent darüber hinweg, längst in der Pflegestufe 3 angekommen zu sein. Zusehends werden ehemals beliebte Modellreihen vollständig gestrichen und lediglich von Nostalgikern und abgehängten Romantikern wirklich vermisst. Der Rest wünscht sich Prestige und Status des vermeintlich Größeren, Stärkeren und, in der Folge falscher Schlussfolgerungen, Überholenden. Die kaiserlich erhöhte Sitzposition täuscht nicht nur über sexuelle Faulheit und bedenklichen Zustand der eigenen körperlichen Verfassung hinweg, sondern gleichermaßen erfolgreich über das Dasein in einem untermotorisiertem aber eingebildeten Massenprodukt aus Fernost, welches lange schon den bescheidenen aber ehrenhaften Kleinwagen aus einer anderen Zeit beerbt hat.
Auf dem Höhepunkt der Verfettung ahnte man sich bereits 1991 als der PKW-Waggon des Sylt-Shuttle an der Spurweite des neu vorgestellten W140 scheiterte und Dieter Bohlen und Co. fortan mit dem LKW Transportwagen vorlieb zu nehmen hatten. Doch Hohn und Spott war nicht das Einzige, womit sich der Stuttgarter Hubraumausstatter auseinandersetzen musste. Denn während Deutschlands dickster Kanzler sich in seinem 600SEL für die Wiedervereinigung beklatschen ließ, triggerte das dick aufgetragene Erscheinungsbild der neuen S-Klasse nicht nur die Wende-Verlierer der Bundesrepublik. Und so formte sich erstmals eine fahrzeugbezogene Grundsatzdiskussion über die Privilegien bei der Nutzung des öffentlichen Raums.
Dreißig Jahre später befindet sich der Body-Mass-Index des deutschen Individualverkehrs auf dem traurigen Tiefpunkt. Die meisten Einstiegs-SUV einer sogenannten Kompaktklasse kommen bis auf wenige Millimeter an die Gesamtbreite der Zielscheibe dieser wütenden Wertedebatte von einst heran, während die herkömmlichen, kleineren Fahrzeugklassen bei der Planung ihrer neuen E-Plattformen von der Industrie häufig gar nicht mehr berücksichtigt werden. Gleichzeitig gab es in der Politik noch nie eine angestrengtere Inszenierung eines medienwirksamen Umweltschutzes und der Umstrukturierung deutscher Innenstädte. Die Rede ist hier gar nicht vom grünen Kurs für den besserverdienenden Moralisten. Denn wo Andi Scheuer sich immer häufiger mit einem Radhelm auf der Haargel-geebneten Hochgeschwindigkeits-Trasse fotografieren lässt, zeigt sich Partei-Kollege Söder gerne beim Körperkontakt mit mittelalten Bäumen. Wenn auch mit der leicht misstrauischen Distanz des Erfahrungslosen. Und sogar Deutschlands fossiler Energie- und Wirtschaftsminister Peter Altmaier schlägt ungewohnte Töne an und bejubelt Allen voran die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Anpassung des Klimaschutzgesetzes. Wie passt das zusammen? Die historischen Umfragerekorde der Grünen im Wahljahr sind nur ein Teil der Facette. Demgegenüber stehen fast 800.000 SUV Neuzulassungen im Jahr 2019 vor der Corona-Pandemie. Tendenz weiter steigend. Ob und wie sich dieser Trend mit der Mobilitätswende vereinen wird bleibt weiterhin spannend. Ich spreche mich an dieser Stelle für automobile Fitness aus. Denn ein gesunder Geist fährt am Besten in einem gesunden Wagen.
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