Verlierer der Mobilitätswende
Aktualisiert: 18. Apr.
Letzte Woche präsentierten die Grünen Annalena Bearbock als Kanzlerkandidatin für die Bundestagswahl 2021. Seither kennen die Werte der Forsa Umfragen für die vormalige Partei Berliner Hausbesetzer und Hamburger Bambule Schwestern aus den Achtzigern und Neunzigern nur eine Richtung. Wo vor dreißig Jahren einst Kartoffeldruck-Shirt und Filzbart eine sichere Umarmung vor Kapitalismus und Leistungsgesellschaft boten, strebt Vollblut-Realo Annalena Bearbock nun im adretten Hosenanzug zielstrebig Regierungsbeteiligung und möglicherweise sogar Kanzleramt an. Vorausgesetzt Hausgespenst Toni Hofreiter meldet sich nach sechzehn Jahren Oppositionsgeschehen nicht noch auf die letzten Meter mit seinen schrulligen Eigenheim-Verbotsphantasien aus dem Keller seines selbstzerstörerischen Geistes (was bei so manch einem mobilitäts- und freiheitsliebenden Bundesbürger nie so dringend herbeigesehnt sein dürfte, wie dieser Tage.) Denn zwar konnte die Task-Force Laschet/Söder mit ihrem öffentlichkeitswirksamen K-Frage-Gulasch im letzten Moment erfolgreich vor den zweifelhaften Deals der Unions-Millionäre ablenken, doch die Umfragewerte bleiben weiterhin auf Sturzflug geeicht. Der Kandidat der SPD hingegen – mir ist der Name gerade entfallen – macht weiterhin was er am Besten kann und glänzt durch Abwesenheit. Man muss also kein FDP Wähler sein um sich besorgt nochmal das (im Gegensatz zum aktuellen) in weiten Teilen sehr konkrete Wahlprogramm vor der letzten Regierungsbeteiligung der Grünen 1998 ins Gedächtnis zu rufen. Forderte da nicht Jürgen Trittin 5,00 DM für den Liter Normalbenzin und Hannelore Saibold wollte Urlaubsreisen mit dem Flugzeug verbieten? Das zumindest blieb in Erinnerung. Verbotsrhetorik und radikale Umweltpolitik, wie sie nach den Jahren der banalen Kontinuität und unaufgeregten Stabilität der zähen Bonner Kohl Ära erwartungsgemäß ankamen wie ein Nagel im Kopf, treffen heute ein Milieu aus gut situierten Millennials und überbehüteter Digital Natives, die nie gelernt haben ihre eigenen Ellbogen einzusetzen und sich deshalb nach der starken Hand des Staates sehnen, der ihre Kämpfe dann austragen soll. Was ´98 also noch fast so viel Wählerstimmen kostete wie die Union der Machtkampf zwischen Kohl und Schäuble, könnte in Kürze möglicherweise entscheidend sein. Unter anderem beim Thema Verkehrswende drängt sich die Frage auf, was aus all den Abgehängten jenseits der Blasen von studierenden Weltenbummlern aus Berlin Friedrichshain oder dem “kritischen Bildungsbürger“ vom Prenzlauer Berg wird. Die Rede ist natürlich vom ländlichen Raum, von Alten oder Kranken. Die Rede ist aber auch – und das wird vielerorts vergessen – vom Wegbrechen einer ganzen Branche samt einem bunten Mix daraus hervorgehender Subkulturen. Wir sprechen über Deutschlands Tuningszene. Nach dem anhaltenden Mobiltätsboom der Jugend der letzten Jahrzehnte sind viele große Namen von einst heute lediglich ein Schatten ihrer selbst oder schlicht gar nicht mehr vorhanden. So selbstverständlich wie heutzutage ein Tiktok Account, war in den 90ern ein Koni-Fahrwerk das Must-Have um in der Jugendkultur stattzufinden. Aber auch seinerzeit schillernde Namen wie BBS oder D&W stoßen heute auf fragende Gesichter. Wo einerseits das Interesse der Jugend am Individualverkehr schwindet, legt die E-Mobilität zum Gnadenschuss an. Verbleibende Verbrenner verlieren dank WLTP Klassifizierungen bereits durch Änderung des Reifenluftdrucks die Betriebserlaubnis und wirklich billige Gebrauchtwagen sind zum selben Mythos wie ein freier Innenstadtparkplatz geworden. Gemessen an der aktuellen Marktlandschaft gelang dem Führerscheinneuling der Neunziger ein spielender Einstieg in die individuelle und in der Folge bald auch individualisierte Mobilität. Die Eintrittskarte zu Freiheit und Selbstbestimmung gab es zu einem Preis, zu dem die antriebskulturell ausgehungerte Jugend heute nicht mal einen Winterradsatz für den geleasten Dreizylinder bekommt. Standen sich fahrbereite Fahrzeuge auf romantischen Kiesplatz-Paradiesen doch zuhauf ihre ausgelutschten Stoßdämpfer in die rostigen Dome. Die schier uneingeschränkte Auswahl und ein teilweise besorgniserregender Gesamtzustand ließen den nötigen Raum für Improvisation und Kreativität. Je nach mentaler Beschaffenheit und persönlichem Gefühl von Ästhetik fiel die Wahl im Regelfall auf die Hausmarken aus Köln, Rüsselsheim oder Wolfsburg. Womit nun endlich die schwierig erreichbaren Großraumdiskotheken, welche zentral gelegen gleich mehrere ländliche Kommunen abdecken mussten, zielstrebig angesteuert werden konnten. Wer schon unterwegs war, verfügte nun über die Autonomie dann auch gleich die Szene-Läden der Großstadt anzusteuern, was die Gefahr, im Blindflug zwischen Maschinen-Nebel und Asbach-Cola-Dunst, der eigenen Cousine unter den Rock zu greifen, schlagartig gen Null senkte.
Da “fahrbereit“ in den Neunzigern nicht nur eine ganze Jugendkultur charakterisierte, sondern darüber hinaus auch ein äußerst dehnbarer Begriff zu sein schien, war es elementarer Teil des Aktes, sich erst mal unter den Neuerwerb zu legen, bevor an Nicole oder/und Sandra Hand angelegt werden konnte. Anfangs in erster Linie um überhaupt ohne Vergaserbrand oder abfallende Karosserieteile in der Stadt anzukommen. Doch schnell wurde der Weg zum Ziel und aus der Not eine Tugend. Den aufwändigen Balzläufen in der Großstadt standen bald die unkomplizierte Befriedigung aus schnellen Nummern wie dem Zurechtflexen der Fahrwerksfedern oder dem Leerräumen des Endschalldämpfers gegenüber. Immer mehr Zeit wurde freiwillig in der Werkstatt verbracht. Fingerfertigkeiten wurden erweitert und Motorik geschliffen. Zwar scheiterten Viele weiterhin am einhändigen Entriegeln filigraner Push Bra Häckchen, doch die Grundeinstellung einer 45er Weber-Doppelanlage entwickelte sich zügig zum Selbstläufer. Sogar mit zwei Promille. Kenne dein Limit und schöpfe dein Potential aus. Selbe Interessen und identischer Lebenswandel verbindet. So blieb es selten bei Einzelschicksalen, und aus allen Ecken schossen viel besungene und allerorts gefürchtete Opel-Gangs, Ford-Clubs oder sogar VW Stammtische aus dem Boden. Semi-professionell organisiert, wurden gemeinschaftlich frisierte Letzhandfahrzeuge im Drift aufs Dach gelegt oder beim Beschleunigungsrennen in geschlossenen Ortschaften um Ampelanlagen gewickelt, nur um sie anschließend wieder zurechtzubiegen und im Dackellauf zur Startlinie zurückzurollen. Tankstellen wurden besetzt um beim allabendlichen Treff ein Ritual aus Dosenbier, Benzintalk und je nach Subkultur und Kalenderjahr Punkrock oder Euro-Dance Charthits zu praktizieren, während Rieger- und D&W-Katalog ein engmaschiges Vertriebsnetz als eine Art Zalando der analogen Mobilitätsgesellschaft bereit hielten. Wo seitenweise sogenannte “Gruppe-A Auspuffanlagen“ und das genauso berühmt-berüchtigte wie wirkungslose “Power-Rohr“ für den Ansaugbereich teilmechanischer Einspritzanlagen, “Super-Sound“ und “satte Mehrleistung“ versprachen, ist im Aufbruch der E-Mobilität kein Ersatz vorgesehen. Und während die FDP im Jahre 2021 über 5 Stunden lang vergeblich versucht ihre 80-seitige Verfassungsbeschwerde über die Corona-Notbremse der Bundesregierung via Faxgerät in Richtung Karlsruhe auf die Strecke zu bringen, wird gleichzeitig ein zügiger und flächendeckender Ausbau der E-Mobilität gefordert. Nicht nur von den Grünen. In der neuen Rolle der Gestalter gibt es für Annalena Bearbock und ihre Partei also viel zu tun. Das kann eine Chance sein. Die Entwicklung in der Tuning-Szene zeigt deutlich, dass Änderungen von Sichtweisen und Gewohnheiten in einer Demokratie in der Bevölkerung selbst erwachen müssen und nicht politisch diktiert werden dürfen. Denn nicht eine auferlegte Million E-Auto Neuzulassungen zeichnen, hier wie dort, das Gesamtbild, sondern die Gesellschaft selbst.