Rückblende:
14- Jährige weinende Chantals, die nach ihrer illegalen Goa-Party mit einem Doppel-streifig gebrandmarkten Test in die RTL-Höhle namens Zuhause zurückkriechen. Auch Kevins Test ist positiv. Zwei Jahre AHA + L + A + beliebig einsetzbare Buchstaben, die unser Leben noch weniger lebenswert gemacht haben, als das 21. Jahrhundert sowieso schon. Alltag der letzten zwei Jahre, Geldkatze leer und die eigenen vier Trockenbauwände sattgesehen.
Was also nun, Herr Vater Staat? Bam 9€ Ticket. Der goldene Groschen, zum Greifen nahe. Ein Quartal 27€, egal wohin. Hamburger Tageskarte AB kostet derzeit 8,20€, klingt also erstmal gar nicht so schlecht. Tag der Abrechnung aka Mord und Totschlag:
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Berlin – Hamburg, gängige Strecke, die ich sonst, im leicht verspäteten ICE, in entspannten einer Stunde vierzig zurücklege. Locker tausendmal gefahren. Neue Umstände neues Glück – Ich hab ja jetzt das 9€ Ticket.
Das brachial volle Gleis verdeutlicht mir schnell: Ich werde hier nicht lebend rauskommen. Die wunderschön grazile Glaskuppel findet ihren physikalischen Brennpunkt bei 40 Grad, direkt auf meinem aus schwarzer Materie bestehenden Ledergewand. Deutsche Bahn Anzeigetafel zeigt nichts an, Wartezeit ungewiss. Tell me something new.
Voller Panik suche ich nach zwei qualvollen Stunden Wartezeit und drei Teint-Stufen gebräunter einen Getränkeautomaten um mir einen überteuerten gesundheitsschädlichen Softdrink zu kaufen. Gönn Dir Schwester! Ich quetsche mich durch die Meute von stinkenden Kreaturen und finde einen leeren Automaten vor. Mist. Merke mir: nächstes Mal Grundversorgung sichern. Fünf Minuten später sperrt die Berliner Polizei das Gleis komplett ab, da "zu viele Fahrgäste auf dem Gleis“ sind. Ich meine, vier Gleise, zwei gesperrt – wer auf dieser Erde kam auf die Idee alle Züge von zwei Gleisen abfahren zu lassen?
Nach vier(!) Stunden sehe ich meinen Zug am Horizont des Berliner Hauptbahnhofs und kann meinen vertrockneten Augen kaum glauben. Das Objekt der Begierde fährt endlich ein. Vollkommen erschöpft steige ich in einen vom Auseinanderfallen bedrohten Wagon ein. Kurz einmal Luft geholt, bevor mir der Geruch aus Urin,Schweiß und Erbrochenem wie ein Brett ins Gesicht schlägt.
Alman Anette & Birkenstock Brigitte finden heute leider keinen Platz mehr um ihren aufgewärmten Aldi-Hugo zu trinken. Stattdessen reden sie mit Tempo AK47 in schrillen Stimmorganen auf mich ein: „ Früher war alles besser, Hast du das Angebot gesehen? Ratatatatatata.“ Den Rest nicke und lächle ich einfach weg.
Ansonsten habe ich hier seit 45 Minuten mehr Körperkontakt als im Kit Kat und Sisyphos Berlin gleichzeitig erlaubt wäre. Ich habe Arme, Beine, Haare, Gepäck, Angelzubehör, Rollkoffer in meinem Gesicht. Ein kleines Schmunzeln kann mir Kroketten Jörg doch von den Lippen klauen. Kroketten Jörg wirft mir nämlich aus 15 cm Abstand einen feuchten Handkuss zu. Ich nenne ihn aus Datenschutzgründen so. Und weil er nach irgendwas aus einer Mischung von Fritteuse und abgestandenen Kartoffelsalat riecht. Oder bin ich das?
Zwei Stunden irgendwas – fragt nicht nach Gott – meditierend und leicht panisch wippend, soweit mir das überhaupt möglich ist, singe ich in meinem Sauerstoff-unterversorgtem Oberstübchen:
„Life goin' nowhere, somebody help me
Somebody help me, yeah
Life goin' nowhere, somebody help me, yeah
I'm stayin' alive.„
Von den Bee Gees.
Vergleiche zu einem überfüllten Viehzuchttransporter, werden dem maßlos überfüllten Zug nicht gerecht. Endlose Stopps wegen völliger Überladung, Handgreiflichkeiten, Polizeieinsätzen oder blockieren der Lichtschranken an den Türen werden in meinem Leben ein eigenes Kapitel einnehmen können.
“Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – der erste Artikel im Grundgesetz der Bundesregierung Deutschland wird gleich mehrfach gebrochen. Stundenlange Unterbindung körperlicher Bedürfnisse: Fehlende Atemluft, gesperrte Toiletten, stattdessen permanente Berührung und anhaltenden Panikattacken. Wo sind die Abstandsregeln, AHA,Kontaktbeschränkungen? Ich wünsche sie mir in diesem Moment so sehr zurück.
Zwölf Stunden Fahrt statt fünf. Ich glaube das ist eine sehr gute Bilanz für die Deutsche Bahn – Eine schwerfällige Behördenstruktur die in der Pandemie mit Millionen von Euro subventioniert wurde.
Vollkommen dehydriert, mit platzender Blase und Rückenschmerzen die Oma Brunhilde erlitten hätte, wenn sie den Umzug allein gemacht hätte, stelle ich
mich weinend unter meine Dusche. 9€. Neun. Euro.
Fazit:
1. Entlastungspakete, die mich mehr belasten, als die bevorstehende Erhöhung der Energiepreise.
2. Ich habe glücklicherweise immer noch kein Corona bekommen. Irgendwie schon weird.
3. Ich habe 744,89€ mehr auf meinem Konto, die ich jetzt für einen Psychiater investieren kann. Zur Traumabewältigung beim Anblick eines DB Schildes.
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